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Afghanistan, war da nicht etwas?

Veröffentlicht am von Gerald Tauber

Karte Afghanistans Quelle: World Atlas

Karte Afghanistans Quelle: World Atlas

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 taucht Afghanistan immer wieder in den Nachrichten auf wenn es um Genderbasierte Gewalt gegenüber Frauen oder um die Visa ehemaliger Vertragsarbeiter der Bundeswehrmission 2002-2021 geht. Unsere Außenministerin Annalena Baerbock behauptete unlängst das sich Afghanistan unter den Taliban in die Steinzeit zurück entwickeln würde, welch metaphorische Wortwahl. Unser Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) schreibt über Afghanistan das aktuell 97% der Bevölkerung in Armut leben würde. Eigentlich kaum zu glauben, aber ein Grund für mich zu recherchieren, wie verhält es sich mit diesen Aussagen und Zahlen. Immerhin gab es da bekanntlich ein nahezu zwanzigjähriges Engagement der USA, Nato, EU und darunter auch Deutschland. Die Bundesrepublik investierte offiziell allein in den Bundeswehreinsatz von 2001 bis 2018 rund 16,4 Mrd. € und die Entwicklungshilfe verschlang mehrere hundert Millionen pro Jahr. Aber es gibt auch Schätzungen die bis zu 47 Mrd. € allein für die Bundesrepublik veranschlagen. Für die USA werden die Kosten allein für das militärische Engagement auf über 2.000 Mrd. US-Dollar geschätzt, hinzu kommen die Kosten für humanitäre Hilfe und zivilen Wideraufbau von ca. 146 Mrd. US-Dollar. Wie doch ganz anders die Erwartungen im Jahr 2001 waren. Man hätte der Öffentlichkeit das Mandat der UN wahrscheinlich besser erklären müssen, denn die UN Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001 wurde nach dem Kapitel VII der UN Charta beschlossen, dem zu Folge hatte die International Security Assistance Force, kurz ISAF, das Mandat zur Friedenserzwingung erhalten und das heißt nun wiederum einen Krieg zu führen. 

Die Lage ist nicht gerade ermutigend, aber die Aussage das 97% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt ist schlicht und ergreifend so nicht ganz zutreffend. Diese Zahl entstammt aus einem UNDP-Bericht vom 19. September 2021. Dieser beschreibt eine mögliche zukünftige Entwicklung und beschreibt ein eventuell eintretendes Worst Case Szenario. Das Einkommen was einer Person zur Verfügung steht ist der Indikator für die Armutsgrenze, soviel ist klar, und für Afghanistan beträgt dieser Wert des Einkommens gerade 2.064 Afghani im Monat, was aktuell 22,50€ entspricht. Laut Weltbank lagen im Jahr 2007 rund 33,7% der Bevölkerung unterhalb dieser Einkommensgrenze und dieser Anteil stieg bis 2019 auf 54,5% der Bevölkerung. Diese Zahlen korreliert mit denen der UNDP, wonach das Pro-Kopf Einkommen von 2012 bis 2021 von 650 auf 508 US-Dollar gesunken ist. Man sieht allein an dieser Zahl das unter den demokratisch gewählten Regierungen es mit der Frage des sozialen Wohlstands in Afghanistan keinen Fortschritt gab, eher das Gegenteil ist der Fall. Ebenso kann man den Hungerindex anführen, seit 2001 bis 2011 sank dieser von 47,8% auf 20,2%, um dann wieder zu steigen bis 2019 auf 29,8/%. So verwundert es nicht, das die Taliban seit 2011 auch immer mehr Zulauf erhielten. 

Was mich besonders verwundert ist die Berichterstattung über Afghanistan, der Spiegel zum Beispiel schreibt das der Hunger eine Folge der Taliban-Herrschaft seit August 2021 sei, nein wie oben beschrieben hat der Hunger auch unter demokratisch gewählten Regierungen oder unter der US- bzw. NATO-Herrschaft Afghanistan nie verlassen. Was fehlt ist eine konkrete Aufarbeitung der Fehlleistungen von US- und NATO Militär, aber auch der zivilen Wiederaufbauhilfe. Laut dem Buch Afghanistan-Papers des Autors Craig Withlock gab es in den 20 Jahren des von der USA und der NATO geführten Krieges, sowie des EU-Engagements nie ein Konzept für einen zivilen Wiederaufbau des Landes.                

Was in der Berichterstattung über Afghanistan nie wirklich angesprochen wurde, das 8,2 Mio. Afghanen seit 1979 das Land als Flüchtlinge verlassen haben, davon kehrten zwischen 2002-21 ca. 5,8 Mio. nach Afghanistan zurück. Hauptaufnahmeländer afghanischer Flüchtlinge waren 2020 der Iran und Pakistan, gefolgt von Deutschland. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 flohen abermals 1,6 Mio. Afghanen, primär in die Nachbarländer. 

Hinzu kamen im Jahr 2020 zum Beispiel 4,6 Mio. Binnenflüchtlinge, davon sind ca. 70% Frauen und Kinder. Die Anzahl der dauerhaft in Afghanistan lebenden Binnenflüchtlinge beträgt dabei ca. 3,6 Mio. Menschen. Diese Anzahl stieg im Jahr 2021 auf ca. 4,3 Mio., wobei die Machtübernahme der Taliban diesem einen neuen Schub gab. Im Rückblick auf das Jahr 2001, dem Jahr als die Taliban von der Nordallianz und den USA von der Macht entfernt wurden, damals galten ca. 3,6 Mio. Afghanen als Flüchtlinge im Ausland, ca. 700.000 galten als Binnenflüchtlinge. Anhand dieser Zahlen kann man sehr gut nachvollziehen das der Krieg in Afghanistan mit allen Mitteln geführt wurde. 

Die afghanische Flüchtlingskrise ist allein anhand der Zahlen die weltweit langanhaltende und die strukturell ausgeprägdeste. Die Kosten zur Bewältigung dieser Dauerkrise sind immens, allein der Fond for humanitarian Affairs der OCHA, also der UN-Nothilfe, erhielt von 2002-23 16,5 Mrd. US-Dollar, allein für Afghanistan. Wir reden hier nur von der Befriedigung von Grundbedürfnissen und nichts mehr. Eigentlich reden wir über ein Land das von einer humanitären Dauerkrise betroffen ist und das seit über 40 Jahren. Hier kulminieren verschiedene Krisen gleichzeitig, ob Klimawandel, Kollaps gesellschaftlicher Strukturen oder einem nun 45 Jahre anhaltenden Kriegszustand, Afghanen hätten wahrscheinlich viel zu erzählen, wenn Ihnen denn zugehört würde. 

Aber nimmt man die Erfolge, so muss man konstatieren, das diese auf den ersten Blick gering waren, der größte Effekt des westlichen Einsatzes sehe ich im Bildungssystem. Immerhin stieg die Alphabetisierungsquote von mageren 18% im Jahre 1979 auf immer noch magere 37,3% im Jahre 2021. Hier ist ein Fortschritt durchaus erkennbar, wobei die Alphabetisierung bei Jugendlichen mit ca. 65% weitaus höher ist als bei den Alten, da liegt sie bei gerade einmal 13%. Im Gesundheitswesen des Landes sind ebenfalls durchaus Fortschritte erkennbar, so sank die Sterblichkeit bei den unter 5 jährigen von 178,5 im Jahre 1990 auf 55,7 pro 1.000 im Jahr 2020. Ebenso sank die Sterblichkeit bei den Neugeborenen von von 88 im Jahr 2001 auf 43 Todesfälle pro 1000 Geburten im Jahr 2021. Wobei hier anzumerken ist das lediglich 42% aller Geburten in Afghanistan von den Behörden in diesem Zeitraum registriert wurden, also Geburtsurkunden ausgestellt wurden. Hier ist durchaus ein Fortschritt erkennbar gewesen, nur hat die Politik diese Fortschritte gleich wieder kassiert in dem man nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 das Sanktionsregime was eigens auf die Taliban und Al-Quaida als Organisation, die ein de-facto Regime betrieb, einstmals entworfen wurde, nun auf das gesamte Land angewendet hat. Die Weltbank setzte die Finanzierung des Sehatmandi-Projektes, das die primäre Stütze des Gesundheitswesens des Landes war, bereits im September 2021 aus, mit der Folge das die Finanzierung von rund 2.000 örtlichen Health-Care Centern bereits im November 2021 nicht mehr gewährleistet war. Zwar sprang 2022 die asiatische Entwicklungsbank, die WHO und andere Organisationen ein, um das marode und unterentwickelte Gesundheitssystem Afghanistans zu unterstützten, angeblich ohne die de-facto Regierung der Taliban dabei zu konsultieren oder eine Zusammenarbeit anzustreben. Was wohl zu Problemen führen kann, denn wie ich las monierten die Taliban das in der Provinz Khost über 700 Health Care Center, medizinische Labore und Apotheken usw., ohne eine gültige Lizenz der nun Regierenden arbeiteten. Sowohl im Bildungssystem wie auch im Gesundheitssystem wird man irgendwann zu einer Zusammenarbeit mit der de facto Regierung der Taliban kommen müssen um weiterhin Fortschritte in diesen Bereichen zu erzielen. Das es mit dem Willen zur Entwicklung des Landes seitens der USA nicht allzu weit her war sieht man zum Beispiel an der Finanzierung der American University of Afghanistan, die ihre Gelder zu 60% eigentlich von US-AID erhielt, aber bereits seit 2019 andere Geldgeber suchen sollte. Dem gegenüber steht nun das die Taliban im Februar 2023 ankündigten auch wieder Frauen als Studentinnen an Universitäten zu zulassen und im August 2023 ihrem Willen bekundeten das wissenschaftliche Equipment an Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen zu modernisieren. Was wohl unserer Außenministerin Annalena Baerbock nicht gefallen dürfte, zeigt es doch das es bei ihrem Steinzeitargument um eine Plattitüde handelt die auf Vorurteilen beruht.   

Bekanntlich wurden bereits mit der Resolution 1267 des UN-Sicherheitsrates vom 15. Oktober 1999 alle Konten der Taliban in der restlichen Welt, außer Afghanistan, eingefroren, der Flugverkehr von und nach Afghanistan unterbunden und das Land war damals bereits vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen. Das hinderte die Taliban nicht zwei Jahre in über 70% des Landes weiter zu regieren, um dann ab Ende 2001 ein recht effektives System des Widerstandes zu etablieren, um ab 2007 das effektive politische System der gegenseitigen Abhängigkeiten auszubauen und ab 2013 eigene Verwaltungsstrukturen allmählich im ganzen Land zu etablieren. Am Ende kontrollierten die Taliban sogar Gebiete die sie vor 2001 gar nicht oder nur schwer erreichen konnten.    

Ein Blick auf heute, die Bundesbank gibt an das die Sanktionen : 

Die Finanzsanktionen gegen bestimmte Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen angesichts der Lage in Afghanistan dienen der Durchführung von Maßnahmen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.

Bundesbank

Ausschlaggebend für die heutigen Sanktionen ist die UN-Resolution 1988 aus dem Jahr 2011, interessant daran ist das nicht die Taliban als Organisation, sondern nur deren führende Mitglieder auf der Sanktionsliste stehen und das sind 137 Personen. Das Sanktionsregime sorgte auch dafür das die afghanische Zentralbank und andere private einheimische Banken aus dem SWIFT-Zahlungssystem ausgeschlossen wurden. Ein anderes Problem der Zentralbank in Afghanistan ist das es keine Banknoten-Druckerei im Lande existiert, daher gibt es seit der Machtübernahme der Taliban auch keine neuen Geldscheine, die im Umlauf befindlichen Geldscheine haben eine schlechte Qualität und eine sichtlich geringe Lebenserwartung. Die letzte Lieferung von einer polnischen Druckerei war für den September 2021 avisiert, konnte aber aufgrund des Sanktionsregimes nicht mehr ausgeführt werden. Daher ist die Frage wohl angebracht, wie es sich die Weltgemeinschaft so vorstellt, wie Afghanen denn ihre Waren und Dienstleistungen in Zukunft bezahlen sollen, wenn die Geldscheine in absehbarer Zeit unbrauchbar werden? Als Alternative zum Bargeld entwickeln sich Kryptowährungen in Afghanistan, aber deren Nachteil ist das nicht alle Afghanen einen Zugang zu Smartphones und Internet haben. Ich sehe daher die Kryptowährungen daher als Ergänzung, aber nicht als vollständigen Ersatz.  

Aber jetzt stellt sich spätestens die Frage ob die Sanktionsdiplomatie der Weltgemeinschaft, also primär UNO auf Initiative der westlichen Staatengemeinschaft, gegenüber den Taliban in diesem Umfang überhaupt sinnvoll ist? Sicher die Taliban sind nicht demokratisch gewählt worden, aber mit dem Argument kommt man eigentlich nicht allzu weit. Vietnam, China, Saudi Arabien, Ägypten oder Angola sind genauso wenig demokratische Staaten, aber mit denen arbeitet man zusammen. Die oben genannten Staaten akzeptieren auch die westliche Lesart der Menschenrechte nicht, ebenso wie Singapur, dort wurden rein statistisch seit 1991 alle 14 Tage ein Mensch hingerichtet. Also stellt sich für mich persönlich die Frage, wie will man mit Afghanistan in Zukunft umgehen? 

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